Auch in diesem Jahr haben wir an Matthias Lüders erinnernt, welcher am 27. April 1993 an den Folgen schwerer Kopfverletzungen, die ihm bei einem Nazi-Überfall am 24. April 1993 bei der damaligen Disco in Obhausen zugefügt wurden, starb.
Am 27.04.2021 haben wir in Obhausen am Kulturhaus einen einen temporären Erinnerungsort errichtet. Wir wollen allen danken, die sich gestern am Gedenken an Matthias Lüders beteiligt haben. Es wurden mehrere Blumensträuße am temporären Erinnerungsort niedergelegt.

In diesem Jahr haben wir uns mit der Berichterstattung zum Mordfall Matthias Lüders und dem Urteil gegen den Hauptverdächtigen auseinandergesetzt.
Teil 1 – Urteil
Besonders interessant ist die Begründung der Kammer, warum eine Verurteilung aufgrund eines Tötungsdeliktes ausgeschlossen wurde. So heißt es: “Auch eine Verurteilung wegen eines Tötungsdeliktes, begangen in Mittäterschaft, mußte unterbleiben. Hierzu wäre zwar objektiv nicht erforderlich gewesen, daß der Angeklagte selbst den Schlag auf den Geschädigten ausgeführt hat, die Kammer hätte aber Feststellungen dazu treffen müssen, daß nach den Vorstellungen der Beteiligten von vornherein der Tod eines Besuchers in Kauf genommen worden wäre.” und weiter “Zwar hatten alle Beteiligten bei der Begehung der Tat Kenntnis davon, daß mehrere Personen Baseballschläger bei sich führten und sie waren hiermit auch einverstanden. Baseballschläger sind zwar sehr gefährliche Werkzeuge, die schwerste Verletzungen hervorrufen können, Anders als z.B. bei einem Molotov-Cocktail hat derjenige, der einen BasebaIlschläger verwendet, jedoch eine Einflussmöglichkeit auf die Wirkung des Schlages. Wenn er seinem Opfer gegenübersteht, kann er sich noch entscheiden, auf welche Körperteile er zielt, und wie weit er zum Schlag ausholt, so daß die Verletzungsfolgen beherrschbar sind.” [URTEIL Seite 15]. Auf der nächsten Seite des Urteils heißt es dann aber “Die Todesfolge konnte und mußte der Angeklagte voraussehen. Der Angeklagte und auch andere Mitglieder der Gruppe der Skinheads um den Angeklagten hatten sich mit Baseballschlägern bewaffnet, um diese auch bei dem Angriff gegen Personen zu verwenden. Daß es bei einem Angriff einer Gruppe auf völlig Unbeteiligte Tote geben könnte, lag nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf der Hand. Wenn Baseballschläger gezielt auf den Kopf einer Person eingesetzt werden, ist dies eine typische Gefahr für das Leben, die diesem Werkzeug aufgrund des konkreten Einsatzes innewohnt.” [Urteil Seite 16] was die Aussage auf der vorherigen Seite aushebelt. Die Kammer erwähnt auch weiter im Urteil das dem Angeklagten laut einer Einlassung gegenüber den Zeugen diese Gefahr bekannt war: “Diese Gefahr war auch dem Angeklagten voraussehbar, was sich aus seiner Einlassung gegenüber den Zeugen ____ und ______ ergibt , wo er angegeben hat, daß er bei seiner Handlungsweise hätte damit rechnen müssen, daß auch lebensbedrohliche Verletzungen entstehen konnten, er sich in dieser Situation aber darüber keine Gedanken gemacht habe.” [Urteil Seite 16-17]. Laut Einschätzung der Kammer ändert auch die Alkoholisierung des Angeklagten nichts an seiner Einschätzung der Situation wie in folgendem Auszug ersichtlich wird: “Die alkoholische Beeinflussung des Angeklagten, die die Grenzes [sic!] § 21 StGB erreicht hat, ändert an dieser Vorhersehbarkeit nichts.” [Urteil Seite 17]
Fazit: Unserer Einschätzung nach, ist die Beurteilung der Kammer nicht konsequent in der Bewertung des Angriffs und der Brutalität mit der der Angriff durchgeführt wurde. Unterstrichen wird dies durch den Widerspruch, der in der Urteilsbegründung, wie in den vorhergehenden Zitaten, zu finden ist. Es wird zwar eingangs behauptet, dass ein Angriff mit einer Waffe, wie einem Baseballschläger, gefählich ist, jedoch nicht zwingend der Tod in Kauf genommen wird. Diese Aussage wird bereits auf der nächsten Seite des Urteils revidiert.
Teil 2 – Urteil
Eine interessante Stelle aus dem Urteil ist:“Die Gruppe um den Angeklagten fühIte sich durch die eine Woche zuvor erlittene Schlappe gedemütigt und reagierte hierauf mit einer vollkommen unverhältnismäßigen Tat, die auch Personen betraf, die mit dem Vorfall eine Woche zuvor nichts zu tun hatten.”[Urteil Seite 18]. Hier wird die Tat als “unverhältnismäßig” dargestellt, als hätte die Gruppe der Angreifenden die Disco in Obhausen auch angemessener angreifen können oder sich angemessen rächen können. An dieser Stelle ist es auch interessant, dass betont wird, dass der Angriff Personen betraf, die mit der Auseinandersetzung der Woche zuvor nichts zutun hatten, als wäre es dann in irgendeiner Art in Ordnung gewesen. Die Kammer behält aber für den weiteren Absatz der Urteilsschrift dieses Framing bei. So heißt es weiter, es sei“[…] in diesem Alter durchaus üblich, daß es zu Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen kommt […]”[Urteil Seite 18]. In diesem Zitat werden Angriffe aus politischen Motiven als “üblich” erachtet und die daraus entstehenden Konsequenzen, die im schlimmsten Fall der Tod von Menschen bedeutet, in Kauf genommen und “normalisiert”. Auch im nächsten Zitat wird die Erzählung eines vernünftigen und angemessenen Angriffs gegen die “richtigen” Personen weitergeführt.“Durch die Art und Weise, wie sich die Beteiligten für den Angriff rüsteten, nämlich mit Baseballschlägern und Vermummung, die Anzahl der Beteiligten und das überfallartige Stürmen, mußte auch für den Angeklagten erkennbar sein, daß sich die Auseinandersetzung nicht in einem vernünftigen Rahmen halten würde.” [Urteil Seite 18].Die Schilderung, wie ein solcher Angriff auszusehen hat, bleibt uns die Kammer aber mehr oder weniger schuldig. Es findet sich aber etwas, das wir als Hinweis darauf verstehen könnten“Aufgrund der gesamten Vorgehensweise mußte für ihn auch ersichtlich sein, daß keinesfalls nur die Leute, die auf der Gegenseite an der Auseinandersetzung eine Woche zuvor beteiligt waren, herausgeholt und ‚Mann gegen Mann“ verprügelt werden sollten.” [Urteil Seite 18].Auf Seite 19 des Urteils wird auch der Pächter der Diskothek in Obhausen als der “Falsche” geframed, so heißt es in der Urteilsschrift“[…] daß er durch die Zerstörung des Mobiliars der Diskothek den Falschen traf, denn auch der Pächter der Diskothek war an der Auseinandersetzung eine Woche zuvor nicht beteiligt.” [Urteil Seite 19].Dieses Zitat erklärt, dass die, die an der Auseinandersetzung eine Woche zuvor beteiligt waren, die “Zielpersonen” gewesen wären, demnach gibt es in dem Fall eine Unterscheidung zwischen “richtigen” sowie “falschen” Personen, die es hätte treffen sollen/müssen.
Teil 3 – Polizeiarbeit
In der Berichterstattung zum Angriff gibt es viel Kritik an der Polizeiarbeit, sowohl im Vorfeld des Angriffs, als auch zu der Polizeiarbeit danach. Am Tattag begleitete, laut “Subbotnik in LA” (SILA) vom Mai 1993, eine Polizeistreife in Zivil die aus Halle anreisenden Neonazis nach Obhausen. Zusätzlich fuhren Zivilpolizist*innen tagsüber immer wieder Streife durch Obhausen, trotzdem erreichte sie den Tatort am Abend erst eine Viertelstunde nach Eingehen des Notrufs. Die letzte turnusmäßige Streife wurde am Tatort zehn Minuten vor dem Überfall gesichtet [SILA Mai 93].
Bereits am 29.04.1993, zwei Tage nach dem Tod von Matthias Lüders, hat Peter Kunert, der damalige Bürgermeister von Querfurt, gegenüber der “Mitteldeutschen Zeitung” die Polizei für den Überfall mitverantwortlich gemacht [MZ 29.04.1993]. Die Polizei sei bereits im Vorfeld über den Angriff informiert gewesen, habe jedoch nur “präventive Raumaufklärung” betrieben. Rainer Bauch, damaliger Chef der Polizei im Regierungsbezirk Halle, berichtet, dass diese Aussagen jeglicher Grundlage entbehren und das jedes Wochenende für 20 bis 30 Diskotheken mögliche Überfälle angekündigt würden und damit Objektschutz unmöglich wird und der Polizei somit nur die Streifentätigkeit bleibt. Ebenfalls erklärt Bauch, dass die Neonazis “mobil und mit Funk ausgerüstet” seien. „Sie prüfen und testen und observieren mittlerweile selbst die Polizeistreifen“, sagt der Polizeichef in der MZ vom 29.04.1993. „Sind Einsatzkräfte vor Ort, fahren die Skins einfach zum nächsten Ort.“ Bauch sah für die Polizei keine Möglichkeit, dem zu begegnen, wie er es gegenüber der MZ äußerte.
Auch der damalige Betreiber der Diskothek in Obhausen übte in seiner Aussage am zweiten Verhandlungstag Kritik am Polizeieinsatz. Er spricht davon, dass er “abgefertigt” wurde und auf seine Befürchtungen bezüglich des drohenden Überfalls sagte man ihm „[…] irgendetwas […] von einer Polizeihundertschaft, die in Eisleben in Bereitschaft liege […]“. Die Polizei in Querfurt habe ihm zwar auf seine Anfrage mitgeteilt, dass sie sich darum kümmern werden “aber gekümmert haben sie sich nicht” [MZ 06.10.1993].
Aus der MZ vom 06.10.1993 geht auch hervor, dass der Tatort nicht für die Beweisaufnahme gesichert war. So war es dem Betreiber einer Disko in Röblingen, in der sich die Neonazis, die den Angriff vom 24.04.1993 verübt haben, häufig getroffen haben und auch an diesem Abend von dort gestartet sind, sowie weiteren Personen möglich, den Tatort nach dem Angriff zu betreten. Selbst die Blutlache im Saal sei nicht abgesperrt gewesen. Auch der Staatsanwalt Klaus Wiechmann kritisierte die Polizeiarbeit in seinem Abschlussplädoyer im Prozess gegen den Hauptverdächtigen im Mordfall Matthias Lüders [MZ 15.02.1994].
Teil 4 – Politische Dimension
In den 90er-Jahren, die auch wegen der Gewalt von Neonazis als Baseballschlägerjahre bekannt wurden, war eben diese an der Tagesordnung vor allem im Osten der Republik. Jedoch wurde die politische Dimension dieser Angriffe damals häufig in den bürgerlichen Medien und in den Verhandlungen, sofern es zu diesen kam, ausgeklammert bzw. wurde dieser keine Beachtung geschenkt. Ähnliches lässt sich auch über den Angriff auf die Diskothek in Obhausen am 24.04.1993 berichten. Bereits im Herbst 1992 veröffentlichen Hamburger Neonazis ein internes Strategiepapier, in dem zu einer “Anti-Antifa-Kampagne” und zum “Ausspähen, Bekanntmachen und schließlich Angreifen” von linken Projekten und Personen aufgerufen wird [ZEIT 10.05.1993].
Sowohl aus der Berichterstattung als auch aus dem Urteil geht hervor, dass es sich beim Neonaziangriff vom 24.04.1993 um eine Racheaktion handelte. Bereits eine Woche vor dem Angriff sind Neonazis in der Obhäuser Disko aufgetaucht und es gab eine Auseinandersetzung mit nicht-rechten Jugendlichen. Im Laufe der Woche bis zum Racheakt scheinen die Neonazis in Halle und Bad Lauchstädt mobil gemacht zu haben. So ist einer Zeugenaussage aus einem der Prozesse zu entnehmen, dass “[…] die sich als rechte bezeichnenden jungen Männer zwei Tage vor dem Überfall in einer Bad Lauchstädter Gaststätte getroffen und über den bevorstehenden Sonnabend gesprochen [..]” haben. [MZ 16.11.1993]
Das einzige was sich im Urteil gegen den Hauptverdächtigen im Mordfall Matthias Lüders findet und annähernd eine Einordnung seiner politischen Gesinnung darstellen soll, ist: “Mit Politik wollen sie nichts zu tun haben. Was sie verbindet ist ihr Aussehen, nämlich kurze Haare, Bomberjacken, Tarnanzüge, Springerstiefel, sowie ihr gemeinsames Ziel, das gesellige Beisammensein. Dieses sieht so aus, daß sie sehr viel Alkohol trinken, ab und zu zu einem Fußballspiel fahren, “Oi-Musik” hören und ab und zu Randale machen.” [Urteil Seite 4]. Weiter ist zur politischen Gesinnung der Angreifenden nichts im Urteil zu finden. In der MZ vom 06.10.1993 wird jedoch der Punkt “Oi-Musik” konkretisiert. Der Angeklagte sagt vor Gericht aus, er höre die “Musik der „Boots & Braces“, was harmlose Musik sei.”. Aus damaligen Veröffentlichungen in antifaschistischen Magazinen geht hervor, dass die Band “Boots & Braces” zu den rechten Bands gezählt wurde, da sie beispielsweise mit Szenegrößen wie z.B. Endstufe oder der im NSU-Unterstützer*innen Netzwerk verankerten Band “Noie Werte” zusammen Auftritte spielte. Des Weiteren waren sie bei dem größten deutschen Rechts-Rock-Label ROCK-O-RAMA unter Vertrag [Die andere Seite des Punks von Ingo Taler]. “Auch die Platten, die bei ihm zuhause gefunden wurden – sie stehen inzwischen auf dem Index -, seien Zufall und Ausdruck reinen Interesses dafür, „was die anderen Bands so spielen“ [MZ 06.10.1993].
“In der Zeugenvernehmung die gestern vor dem Landgericht Halle fortgesetzt wurde, sagte nun auch Thomas H. aus, der als Leitfigur der halleschen Rechtsradikalen gilt. Er schilderte die Skinheads aus Halle- Süd und Halle-Neustadt als „lustige Truppe“, in der Alkohol im wesentlichen die Rolle des „Frustabbauens“ übernommen habe.” [MZ – 12.01.1993] Die Rolle von Thomas H. wird auch in der Ausgabe 43 von “Subbotnik in LA” (SILA) vom Mai 1993 als “Vorsitzender der deutschen Liga Halle (diese will ein Netzwerk aller – auch der militanten – rechten Parteien und Gruppierungen schaffen)” [SILA Mai 1993] beschrieben.
Ein Paradebeispiel für die Fehleinschätzung neonazistischer Gewalt liefert der damalige Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Regierungsbezirk Halle, Alexander Nissle: “Auffällig sind aber die zunehmende Motivations- und Sinnlosigkeit solcher Delikte.“ [MZ 07.05.1993]. Unserer Einschätzung nach sind diese Taten für die Neonazis nicht sinn- und motivationslos, da sie, wie auch aus dem Strategiepapier der Hamburger Neonazis hervorgeht, das Ziel haben, eine rechte Vormachtsstellung herzustellen.
Doch auch wenn die politische Dimension des Angriffs, bei dem Matthias Lüders ermordet wurde, im Prozess als auch in der Berichterstattung nicht die Rolle gespielt hat, die sie hätte spielen müssen, und obwohl der Mord an Matthias Lüders im Verfassungsschutzbericht 1993 des Innenministeriums Sachsen-Anhalt ausführlich als Beispiel für Gewalt von Naziskins beschrieben wird, wird er erst 19 Jahre nach seinem Tod im Sommer 2012 von der Landesregierung offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Dies ist vor allem der Arbeit der Mobilen Opferberatung und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zu verdanken.